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Titel
Der Geschmack des Archivs.


Autor(en)
Farge, Arlette
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
118 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Henry Sundar

Der Geschmack hatte es bis vor einigen Jahren schwer in der Geschichtswissenschaft, ebenso wie das Fühlen. Beide sind sie nach Kant als «»Nahsinne» gegenüber den «Fernsinnen» Sehen und Hören minderwertig. Und so ist das Archiv oft das unvermeidliche Übel, in das man sich begibt, um «noch nicht» ediertes Material zu sichten und mit mehr oder weniger gefüllter Festplatte wieder zu verlassen. Dass es so einfach nicht ist, sondern dass das erlebte Archiv seine eigene Erforschung mitschreibt, verdeutlichen paradigmatische Arbeiten im Umfeld der historischen Anthropologie wie jene von Robert Darnton, Natalie Zemon Davis und Carlo Ginzburg. In ihrem nun in Übersetzung vorliegenden Essay von 1989 wagt sich die französische Historikerin Arlette Farge, eine Spezialistin des 18. Jahrhunderts, nahe an das Archiv heranzugehen und zeitweilig gar die in ihrer Zunft so hochgehaltene Distanz zu dem Gegenstand bewusst zu vernachlässigen. Geschichte zu schreiben heisse eben, als Forscherin weder im Material aufzugehen noch es distanziert zu betrachten, sondern in einem dialektischen Austausch Konturen herauszuarbeiten (S. 58). Der Geschmack steht dabei stellvertretend für eine phänomenologisch begriffene, synästhetische, leibliche Erfahrung des Archivs überhaupt, in der Subjekt und Objekt nicht mehr sauber zu trennen sind. Etwa die Hälfte des schmalen Bändchens ist der rezipierenden Arbeit im Archiv gewidmet, während die zweite Hälfte das schöpferische, darstellende Arbeiten des Historikers, das Schreiben der Geschichte vom Archiv her erörtert. Verfasst in einer einladenden Sprache und mit treffenden Beobachtungen zum Biotop Archiv gespickt ist der Essay gleichzeitig profundes Nachdenken über Geschichte wie auch solide Einführung in das sinnliche Handwerk der Historikerin. Unzufrieden lässt einen einzig der Schluss zurück, wo der Geschmack des Archivs als «Irrfahrt durch die Worte anderer» definiert wird. Solcher Logozentrismus erstaunt, nachdem unter anderem dem Tastsinn und den verspannten Schultern am Abend Erkenntniswert zugestanden wurde und wo doch die beiden spektakulärsten im Essay besprochenen Archivtrouvillen primär durch ihr gegenständliches Vorhandensein «reden». – Ein von Alf Lüdtke neu verfasstes Nachwort rundet den von Jörn Etzold stimmig übersetzten Essay ab. Die schlichte, aber bibliophile Ausstattung des Bändchens sorgt dafür, dass es auch im haptischen – Farge nennt es das «digitale» – Gedächtnis haften bleibt.

Zitierweise:
Sundar Henry: Rezension zu: Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs. Göttingen, Wallstein, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 364-365

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 364-365

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